Die Impfpflicht – juristisch betrachtet

 

Die Impfpflicht wird aktuell wieder heiß diskutiert. Die Befürworter und Gegner der Pflicht stehen sich häufig unversöhnlich gegenüber. 

 

Die Streitlinien dürften ähnlich verlaufen wie bei den Befürwortern und den Gegnern des Impfens im Allgemeinen. Bei diesem wissenschaftlichen Streit geht es in erster Linie um den Nutzen von Impfungen bzw. den negativen Folgen des Impfens. Idealerweise kann jeder für sich selber abwägen, ob er eine bestimmte Impfung durchführt oder nicht. Dies sollte auch das Ziel der gesamtgesellschaftlichen Diskussion sein: Das Für und Wider des Impfens abzuwägen und den Betroffenen eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. 

 

Eine staatliche Impfpflicht greift in diesen Streit ein und entscheidet ihn durch Zwang zu Gunsten der Impfbefürworter.

 

Dies soll Anlass sein, die juristischen Hintergründe einer möglichen Impfpflicht aufzuarbeiten.

 

Historisches

Zunächst ist festzuhalten, dass es derzeit in Deutschland keine bestehende Impfpflicht gibt. Dies ist in verschiedenen europäischen Ländern anders. Unser Nachbarland Frankreich sieht verpflichtende Impfungen in den ersten Lebensjahren vor, in Italien ist es ähnlich. Die Anzahl der dort vorgesehenen Pflichtimpfungen wurde sogar in jüngster Zeit erhöht.

 

In Deutschland gibt es ähnlich wie in Österreich keine grundsätzliche Impfpflicht. Im Falle eines Ausbruchs einer Infektionskrankheit können jedoch Vorkehrungen zur Eindämmung und Prävention getroffen werden. Hierzu kann auch eine Impfpflicht gehören.

 

Eine Impfpflicht gab es bereits in Bezug auf die Pockenimpfung; sie wurde 1949 eingeführt und Anfang der Achtziger Jahre aufgehoben.

 

Rechtsgrundlage

Einschlägig ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG).

 

In § 20 Abs. 6 IfSG wird das Gesundheitsministerium ermächtigt, eine entsprechende Impfpflicht durch Rechtsverordnung anzuordnen. Diese bedarf allerdings der Zustimmung des Bundesrates.

Voraussetzung für die Anordnung ist, dass eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.

 

Die Anordnung einer Impfpflicht hat also schon nach dem Gesetz verschiedene Voraussetzungen.

 

Zunächst einmal muss es sich um eine Infektionskrankheit handeln. Des Weiteren müssen bei dieser schweren Verlaufsformen auftreten. Eine Impfpflicht kann daher nicht bei solchen Infektionskrankheiten angeordnet werden, die nur zu leichten Gesundheitsbeeinträchtigungen führen.

 

Am schwierigsten ist wohl die Prognose, ob eine epidemische Verbreitung der Krankheit droht. Eine Epidemie zeichnet sich dadurch aus, dass es zu einer Steigerung der Infektionsraten kommt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die sog. Reproduktionsrate. Bei einer Epidemie ist diese >1, d.h. die Zahl der Neuinfektionen steigt stark an.

 

Ist die Reproduktionsrate gleich 1 spricht man von einer Endemie. Dies bedeutet, der Erreger befindet sich dauerhaft in der Bevölkerung und kann nicht restlos ausgemerzt werden.

 

Bei Masern wird in diesem Zusammenhang das Problem diskutiert, dass viele auf den Menschen übertragbare Viren in Fledermäusen ein Reservoir finden. Dies gilt auch für das Masernvirus. Daher erscheint es unrealistisch, die Masern ausrotten zu wollen. Eine Kampagne für die Masernimpfung lässt sich nach derzeitigem Kenntnisstand nicht mit dem Zweck der Ausrottung der Krankheit begründen. Vielmehr müsste kommuniziert werden, dass das Impfen dauerhaft erfolgen muss. 

 

Masernimpfung

Die Impfpflicht für Masern wurde in den vergangenen Jahren häufig in der politischen Diskussion gefordert. Zweifellos gehören die Masern zu den Infektionskrankheiten und es können schwere Verlaufsformen auftreten. Hierzu gehört insbesondere eine schwere Verlaufsform der Gehirnentzündung (SSPE).

 

Fraglich ist jedoch, ob die beobachteten Krankheitsfälle die Annahme einer Epidemie rechtfertigen. Die offiziellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts weisen für 2018 543 Masernfälle aus. Gegenüber 2017 bedeutet dies eine Verringerung von damals 929. Die verfügbaren Zahlen deuten nicht auf einen stetigen Anstieg über die vergangenen Jahre hinweg hin. Vom Höchststand in 2001 mit 6039 sind wir derzeit weit entfernt. In 2015 wurde mit 2.465 Fällen ein kurzzeitiges Zwischenhoch erreicht. 

 

Für ganz Europa betrachtet geben die Zahlen der WHO auch keinen stetigen Anstieg der Masernfälle im vergangenen Jahrzehnt her. Allerdings ist seit 2016 ein kontinuierlicher und recht schneller Anstieg von 5.273 (2016), 25.863 (2017) auf 82.596 (2018) zu verzeichnen. Da Infektionskrankheiten keine Ländergrenzen kennen, sollten bei der Frage der epidemischen Ausbreitung die europäischen Nachbarländer nicht unberücksichtigt gelassen werden.

 

Für den Anstieg in jüngster Zeit wird auch der vermehrte Zuzug von Personen aus Ländern mit niedriger Impfquote und vermehrten Infektionen angeführt. Der Syrienkrieg hat die Zahl der Infektionen bspw. bei Polio und Masern im Land selbst und den Nachbarländern seit 2013 ansteigen lassen. 

 

Das Kriterium der Epidemie dürfte allerdings nach den vorliegenden Zahlen umstritten sein. Damit ist schon fraglich, ob die Voraussetzungen des Impfschutzgesetzes an dieser Stelle erfüllt sind. Knackpunkt könnte sein, dass das Gesetz auch eine Prognose zur epidemischen Ausbreitung zulässt; diese müsste allerdings mit entsprechenden Fallzahlen begründet werden können.

 

Eine Impfpflicht ins Blaue hinein wäre mit unserem Rechtsstaat jedenfalls nicht vereinbar.

 

Eingriff in Grundrechte

Dies liegt daran, dass jede staatlich verordnete Impfung einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeutet. Dies ist im Übrigen auch bei freiwilligen Impfungen der Fall. Die Körperverletzung, die der Arzt durch die Impfung begeht, ist jedoch bei einer Einwilligung des Patienten ohne Strafe.

 

Die körperliche Unversehrtheit ist bei Kindern wie bei Erwachsenen gleichermaßen durch Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz geschützt. 

 

Wird ein Kind gegen den Willen der Eltern geimpft, ist auch Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz betroffen: Auch das Sorgerecht der Eltern für ihr Kind ist durch die Verfassung geschützt. Hierzu gehört, zu entscheiden, ob und wie das Kind geimpft wird.

 

Rechtfertigung für den Eingriff

Der Eingriff muss hier auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen. Eine gesetzliche Grundlage ist durch das Impfschutzgesetz gegeben. Die Voraussetzungen des Impfschutzgesetzes müssen allerdings eingehalten sein. Fraglich ist dies bei dem Erfordernis der epidemischen Verbreitung.

 

Des Weiteren muss der Eingriff nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes geeignet, erforderlich und angemessen (Verhältnismäßigkeitsprinzip) sein.

 

Geeignetheit

Geeignet ist eine Maßnahme dann, wenn sie die Erreichung des angestrebten Zwecks bewirkt oder zumindest fördert.

 

Zweck ist hier der Schutz der Bevölkerung vor der Ansteckung mit Infektionskrankheiten (hier: Masern). Eine hohe Impfquote bewirkt, dass das Virus nicht ausbrechen und sich verbreiten kann. In der Allgemeinheit stimmt diese Aussage. Von Kritikern der Masernimpfung wird allerdings eingewendet, dass bei Säuglingen der sonst vorhandene Nestschutz bei einer geimpften Mutter abgeschwächt wird. Dies würde bedeuten, dass eine Impfkampagne zwar durchschnittlich das Risiko von Infektionen gerechnet auf sämtliche Bevölkerungsteile absenkt; das Risiko für bestimmte Bevölkerungsteile jedoch erhöht. 

 

Aktuell werden gehäuft schwere Verlaufsformen von Masern beobachtet, bei denen die Infektion in den ersten Lebensmonaten stattfand. Diese Häufung kann allerdings nicht als Argument für eine allgemeine Impfpflicht herangezogen werden, da die hohe Impfquote diese erst ausgelöst hat.

 

Bei der Frage der Geeignetheit muss also unterschieden werden, welcher Bevölkerungsteil hiervon gemeint ist. Bereits an dieser Stelle ist also die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht ganz einfach zu beantworten.

 

Ein Vergleich mit Ländern mit bestehender Impfpflicht könnte hier weitere Erkenntnisse liefern. So haben die genannten Länder Frankreich und Italien eine wesentlich höhere Anzahl von Masernfällen. Hier wäre wissenschaftlich zu untersuchen, warum die allgemeine Impfpflicht nicht zu einer geringeren Zahl von Infektionen führt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Masernimpfungen erst seit kurzer Zeit verpflichtend sind.  

 

Erforderlichkeit

Auch die Frage der Erforderlichkeit ist nicht einfach zu beantworten. Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht.

 

Hier können verschiedene Maßnahmen wie Aufklärungskampagnen oder finanzielle/ sonstige Anreize diskutiert werden. Diese wären alle weniger belastend, da sie keinen Zwang ausüben.

Fraglich ist jedoch, ob sie den gewünschten Zweck, hier erhöhter Schutz der Bevölkerung vor der Infektionskrankheit Masern, gleich effektiv erreichen können. 

 

Da die Impfquoten bei Masern bereits relativ hoch sind (Erstimpfung 97 %, Zweitimpfung 93 % der Schulanfänger), ist fraglich, ob die gewünschten zusätzlichen 2 Prozentpunkte (Ziel: mindestens 95 %) bei der zweiten Impfung durch freiwillige Maßnahmen erreicht werden können.

 

Allerdings lässt die Differenz zwischen Erst- und Zweitimpfung den Schluss zu, dass es sich bei den Ungeimpften nicht ausschließlich um harte Impfgegner handelt, sonst wäre die Quote bei der ersten Impfung ebenfalls niedriger. Der Unterschied ist wahrscheinlich damit zu erklären, dass die Zweitimpfung vergessen wurde bzw. als nicht so wichtig angesehen wird.

 

An dieser Stelle könnte eine Informationskampagne entweder in Bezug auf die Eltern und/oder in Bezug auf Kinderärzte dafür sorgen, dass die zusätzlichen 2 Prozentpunkte erreicht werden.

 

Geht man davon aus, dass es sich ausschließlich um Impfgegner handelt, dann dürfte die Impfpflicht das einzig geeignete Mittel sein.

 

Angemessenheit

Schließlich muss die Maßnahme auch noch angemessen sein. Angemessen ist sie dann, wenn die Nachteile der Maßnahme nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen der Maßnahme stehen. An dieser Stelle muss eine Abwägung der betroffenen Grundrechte erfolgen.

 

Die Angemessenheit ist eine äußerst schwierige Prüfung und letztlich eine Abwägungsfrage. Abschließend entscheidet in unserer Rechtsordnung hierüber das Bundesverfassungsgericht. 

 

Vorliegend muss daher geprüft werden, ob der Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit und das elterliche Fürsorgerecht mit einem anderen Grundrecht gerechtfertigt werden können.

 

Hier wäre daran zu denken, dass eine hohe Impfquote letztlich die körperliche Unversehrtheit der Mitmenschen schützt. 

 

Hiergegen könnte folgendes Argument angeführt werden: Jeder Einzelne kann sich durch seine eigene Impfentscheidung adäquat schützen. Die Impfung der übrigen Personen ist daher nicht unbedingt zum Schutz der eigenen Person notwendig.

 

Hiergegen kann wiederum eingewendet werden, dass die Masernimpfung keinen 100-prozentigen Schutz gegenüber einer Infektion vermittelt und es noch sicherer wäre, wenn alle Bevölkerungsteile durchgeimpft sind. Eine vollständige Durchimpfung der Bevölkerung ist jedoch illusorisch und auch nicht machbar, da bestimmte Personen die Impfung aus gesundheitlichen Gründen nicht erhalten dürfen. Zudem kann eine Impflicht nicht für alle einreisenden Personen durchgesetzt werden.

 

Sofern durch die Impfung kein zuverlässiger Schutz vermittelt wird, stellt sich zudem wieder die Frage der Geeignetheit.

 

Im Übrigen ist zu bedenken, dass bei einer hohen Impfquote wiederum das Risiko für Säuglinge erhöht werden könnte.

 

Weiter erschwert wird die Abwägung dadurch, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht nur durch die Impfung beeinträchtigt werden kann, sondern auch durch das Unterlassen der Impfung. Durch das Unterlassen der Impfung besteht ein höheres Risiko an der Krankheit (hier: Masern) zu erkranken. Im Gegensatz zur Impfung handelt es sich hierbei nicht um einen tatsächlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit sondern um eine potentielle Beeinträchtigung.   

 

Diese Konstellation ergäbe sich genauso bei einer Impfpflicht für Erwachsene. Das Grundrecht körperliche Unversehrtheit enthält auch die Autonomie zu entscheiden, welche Eingriffe der Einzelne in seinen Körper zulässt. 

 

Bei einer Impfpflicht für Kinder bedeutet dies: Diese Autonomie würde für Kinder beschnitten. Dies ist automatisch auch ein Eingriff in das Recht der elterlichen Fürsorge. Der Staat hat sich nach unserer Verfassungsordnung aus der elterlichen Fürsorge herauszuhalten, außer das Kindeswohl ist gefährdet. 

 

Die Frage der Angemessenheit ist daher letztlich nicht einfach zu beantworten.

 

Gleichbehandlungsgrundsatz

An dieser Stelle sei abschließend noch das Problem der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1) genannt.

 

Könnte eine Impfpflicht nur für Kinder gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen?

 

Verlässliche Daten für die Impfquote unter Erwachsenen sind in Deutschland nicht verfügbar. Allerdings sind fast die Hälfte der aktuell an Masern Erkrankten Erwachsene. Dies deutet darauf hin, dass die angestrebte Impfquote bei den Erwachsenen ebenfalls nicht erreicht wird. 

 

Zwar gibt es einige Gründe, warum Impfungen im Kindesalter empfohlen werden. Außer Frage steht jedoch, dass eine Impfpflicht für Kinder im Zweifel politisch einfacher durchsetzbar ist als eine Impfpflicht für alle Altersgruppen. Wenn die Politik „die Ausrottung der Masern“ als ausdrückliches Ziel ausgibt, sollten sich die Vorschläge auch hieran orientieren. 

 

Ausblick

Fraglich ist, ob die Rechtsverordnung - so wie vom Gesundheitsminister Spahn geplant - verabschiedet wird. In einigen Bundesländern regt sich bereits Widerstand.

 

Würde die Rechtsverordnung wie geplant Mitte 2020 kommen und die ersten Sanktionen verhängt werden (Bußgeld, Ausschluss von Kinderbetreuungseinrichtungen), so ist sicherlich mit zahlreichen Klagen zu rechnen.

 

Über die Verhältnismäßigkeit müssten die Gerichte befinden, das Bundesverfassungsgericht hätte das letzte Wort. Da es sich um eine nicht ganz alltägliche gesetzgeberische Maßnahme handelt, ist dies auch der richtige Ort, die offenen Rechtsfragen umfassend zu klären.